Seit Monaten habe ich einen Ohrwurm. Jetzt endlich sind mit Text und Bilder dazu eingefallen. Es hat mich sofort in das Jahr 1972 zurück katapultiert. Ich sitze in einem überfüllten Klassenraum. Wir haben Musikunterricht und wir hören das Musical Hair. Zu Hause wurden nur Schlager gehört: Freddy Quinn, Peter Alexander, Bill Ramsey und Alexandra. Glenn Miller, die absolute Ausnahme, wurde nur im Radio gehört. Von den Künstlern waren kleine Vinyl Singel Schallplatten in der Musiktruhe meiner Eltern vorhanden. Im Musical Hair haben sie von Freundschaft und Geborgenheit in der Gruppe gesungen, von Großzügigkeit, Frieden und Liebe, einer Welt ohne Krieg. Musik, die mich begeisterte und eine Botschaft, die mich mitgerissen hat. Es war großartig. Für meine Schule war es etwas Besonderes. Ich bin auf eine reine Mädchenschule gegangen. Die alten Werte der Kriegsgeneration wurden vermittelt:“ Wie etwas schaffen, es zu etwas bringen“.1975 wurde das Gesetz verabschiedet, daß Frauen nur arbeiten durften, wenn die Eltern oder der Ehemann den Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Auch durften wir endlich unser eigenes Konto bei der Bank eröffnen. Eine aufregende Zeit, in der ich Teenager gewesen bin. Plötzlich hatten Frauen und Männer lange Haare, trugen Hotpants und Clogs. Bei den Kindern wurde das Bonanza Fahrrad zum größten Traum. Bei den Eltern war es plötzlich nicht mehr der Opel Kadett, sondern der Golf. Bei denen, die mit der Zeit gingen, tauchten in den Wohnzimmern Lavalampen auf; statt Perserteppichen gab es Flokatis, und in der Raumluft hin der Duft von Räucherstäbchen;Folgen der Hippie Bewegung, Jesus People oder beeinflusst durch die Lehren von Baghwan. Es gab noch weitere wichtige Bewegungen, wie die Friedensbewegung, Frauenbewegung, Punk, Anti Atomkraft. Brokdorf wurde zum Thema. Für meine Eltern war nach dem Krieg der Aufbau Boom vorbei. Kriegsangst und Ölpreiskrise geisterten durch die Zeitungen. Es gab neue Zeitschriften, wie“ Emma und MAD“, Bücher, wie „wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ .Es gab analoge Fotografie, Käse Igel und Klatschbrötchen. In den Kinos lief statt Pater Brown:“Clockwork Orange, der Weiße Hai, Apocalypse now, Das Leben des Brain und Angst essen Seelen auf, nicht zu vergessen die Schulmädchen Reporte. Baader/ Meinhof betraten das Spielfeld und durch den Beginn der Computer Ära hörten wir zum ersten Mal von der Raster Fahndung. Für zu Hause gab es da erste Videospiel und DISCO in einem der drei Fernsehkanäle. Tonbandgeräte waren immens wichtig, denn das Radio spielte die größte Rolle in unserem Leben. Die Musik hat sich verändert. Es gab u.a. Liedermacher, Punk, Glam Rock, Funk, New Wave, Hard Rock, Disco. Alles wurde gespielt und Bowie, Pink Floyd, Lennon, Springsteen, Black Sabbath und die Ramones wurden unsere musikalischen Helden der Zeit. Es gab plötzlich Peep Shows und Kommunale Kinos. Die politische Bühne wurde von Nixon, Castro, Indira Ghandi, Pinochet, Arafat, d` Èstaing, Schmidt, Brandt, Honecker und Begin beherrscht und Spanien bekam wieder eine Monarchie. Es ist sehr viel in die Veränderung gegangen, durch die Weiterentwicklung der Medien und der Industrie. Im Lauf der rasanten Zeit und der Immanenz von Kapitalerträgen sind uns Menschen unsere Werte abhanden gekommen. Sie sind lautlos im Gezeitenstrom verschwunden. In 2021 ist urplötzlich wieder der Wunsch da, nach einer besseren Welt und einem erneuten Wertewandel; ähnlich, wie in den siebziger Jahren. So ist die Musik in mir wieder präsent. Sie waren Hymnen der Hippiebewegung, die nur gesungen, aber Inhalte nicht gelebt wurden und sich durchgesetzt haben. Auch ich bin zwischendurch aufgewacht und habe festgestellt, daß ich nicht anders bin, als meine Eltern. Ich habe das getan, was von mir erwartet wurde: im System funktionieren. Gelegentlich habe ich mich dafür sogar gehasst, trotz Teilnahme an diversen Demonstrationen, wie u.a.§ 218,Petting statt Pershing, Atomkraft. Meinungsbildung hat noch im öffentlichen Raum stattgefunden und durfte kundgetan werden. Heute gibt es Online Petitionen. Wer liest diese denn bei der Masse an Informationen, die uns täglich erreichen? Ich habe mir meine innere Haltung zu vielen Themen bewahrt. Sie mit Herz, Verstand und früher auch mit Wut im Bauch bei Unverständnis verteidigt. Ich bin ruhiger uns besonnener geworden, aber aufgeweckt und interessiert geblieben. Die Protestsongs von damals singe ich immer noch. Vieleicht werden sie die neuen Songs der 2020er Jahre. Wer weiß? Ich hoffe, dass wir gemeinsam diesen Wertewandel schaffen. Höre ich doch von vielen Menschen den Wunsch nach einem liebevollen Miteinander, Gemeinschaft, nach aufrichtigen Begegnungen, Gesprächen und Denken und Fühlen. Der“lonesome Cowboy“ verstaubt im 20.Jahrhundert,was für ein schönes Bild. Der Wertewandel ist in Gang gesetzt worden durch einen Virus. Ich setze viel Hoffnung in seine parasitären Strategien. Auch, wenn ich aufgrund meines Alters das Ende sicherlich nicht mehr miterleben werde, so ist es ein Weg, den meine Kinder und Enkel gehen können in eine bessere und liebevollere Welt. Jetzt höre ich gerade „Imagine“ von Lennon, „Let the sunshine in“. Danke für diese geile Mucke aus den 70ern und diese wunderbaren Texte. Entstanden auf dem Dulsberg in Hamburg im Februar 2021.Ohrwürmer schenken Erinnerungen. Sicherlich sind mir einige Dinge entfallen. Ich möchte nicht zurück in diese Zeit oder jünger sein. Sie war aufregend. Auch ich wollte die Welt verändern und erlag durch persönliche Entwicklung und Weiterbildung hin und wieder der Amnesie